Beherrscht das Genie das Chaos?

„Ordnung braucht nur der Dumme, das Genie beherrscht das Chaos“

oder

Sollte ich nicht doch lieber meinen Schreibtisch aufräumen?

Das hier als Titel verwendete Zitat stammt angeblich von Albert Einstein. Leider habe ich bislang, trotz intensiver Suche, nirgendwo Angaben dazu finden können, wo und wann er den Satz gesagt haben soll. Macht auch nichts. Die Aussage wird dadurch, dass sie von einem anerkannten Genie stammt auch nicht besser oder schlauer. 

 

Der Geniebegriff ist vielfältig herzuleiten: englischer Sprachraum, französischer Sprachraum, lateinische Herkunft, Renaissance, Kant, Goethe, da Vinci, Psychologie, Intelligenz, Talent, Begabung, Aristoteles, Curie, Hopper, Jobs. Ich habe mal extra auch weibliche Genies hier eingestreut, die werden nämlich selten genannt.

 

Ich würde gerne einfach mal bei Goethe bleiben. Einfach weil der mir einen hervorragenden Übergang zu dem Sujet verschafft, über das ich schreiben möchte. Der junge Goethe also – wir stellen uns mal einen 24-jährigen hochintelligenten jungen Mann vor, der ganz im Sinne des Sturm und Drang unterwegs ist. Stürmisch und drängerisch geht es bei ihm zu. Emotional und intellektuell hat sich der junge Goethe schon ab 1773 mit der Gelehrtentragödie befasst, liest sogar daraus bereits Bekannten vor. Hier im Faust wird der Geniegedanke lebendig zu Papier gebracht. Der Wunsch nach naturnaher und auch schöpferischer Lebensweise beherrscht den Geist.

 

Im Sturm und Drang ist das Bild des Genies zu finden, dieses Menschen, der sich nicht den gegebenen Autoritäten unterwirft, der nur die eigenen Wünsche kennt und diesen folgen möchte. Goethes Faust scheint genau der Epoche des Sturm und Drang zu entsprechen, wenn er genießen will, doch scheint dies nur oberflächlich so. Der Genuss hat Tiefe, die Mephisto ihm nicht unbedingt geben will und kann. Das schnelle Sinnesleben des Bösen ist nicht zu verwechseln mit der Lust auf tiefe Erkenntnis beim Gelehrten. 

Dass wir Faust als Gelehrten wahrnehmen, kommt nicht von irgendwo. Und wenn er in seinem „gotischen Zimmer“ – wie es in den Hinweisen heißt – zu seinen berühmten Monolog mit den folgenden Worten beginnt:

„Habe nun, ach! Philosophie,

Juristerei und Medizin,

Und leider auch Theologie

Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.

Da steh ich nun, ich armer Tor!

Und bin so klug als wie zuvor;

Heiße Magister, heiße Doktor gar

Und ziehe schon an die zehen Jahr

Herauf, herab und quer und krumm

Meine Schüler an der Nase herum –

Und sehe, daß wir nichts wissen können!“.

Dann stellen wir uns den scheinbar unwissenden Faust nicht gerade an einem unaufgeräumten Schreibtisch vor. Im Gegenteil. Die Erkenntnis, die er sein ganzes bisheriges Leben gesucht hat, hat er im aufgeräumten Äußeren gesucht. Nur mit ordentlicher Tischplatte kann die Suche gelingen, kann gelernt und studiert werden. Faust, die Verkörperung des Geniekults des 18. Jahrhunderts, kann als Figur nur gelingen, wenn sein Schreibtisch aufgeräumt ist. 

 

Jetzt mag der ein oder andere entgegensetzen, dass ihm das doch wenig eingebracht hat – bis auf die Erkenntnis, „dass wir nichts wissen können“. Aber das ist doch schon sehr viel.

 

Außerdem gibt es auch Leute, die einfach das, was auf ihrem Schreibtisch liegt, in eine große Schublade legen.

Macht nichts, führt nämlich auch zum Ziel. Zumindest kurzfristig.

 

Ein freier Tisch für freie Denker. 

(Constanze Brinkmann)

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